MANUEL FRICK
Hintergrund Online

Eine Zeitreise in Winterthurs Vergangenheit

Am Hauptbahnhof hält ein Tram, die Altstadt dient als Parkplatz: So hat Winterthur früher ausgesehen.

Die Stadt Winterthur hat ihr Gesicht über die Jahrzehnte markant verändert. Das Arch-Parkhaus wich einem Einkaufszentrum, aus der Altstadt wurde der Autoverkehr verbannt, auf dem Bahnhofsplatz ragt heute ein grosser «Pilz» aus dem Boden. Und bis wann fuhren eigentlich Trams durch Winterthurs Strassen? Der «Landbote» zeigt anhand von zehn historischen Bilder die grossen architektonischen Umwälzungen und hat alteingesessene Winterthurer gefragt, welche Erinnerungen diese Bilder bei ihnen auslösen:

Kesselhaus in den 1990er-Jahren

Als Wahrzeichen des Sulzer-Areals bezeichnet das Internet-Lexikon «Winterthur-Glossar» das Kesselhaus. Der in den 50er-Jahren gebaute Komplex mit den zwei markanten Kaminen diente jahrzehntelang als Energiezentrale. Mit dem Auszug der Schwerindustrie Ende der 80er-Jahre begann eine lange Phase der Zwischennutzungen. Seit 2010 wird das Kesselhaus wieder längerfristig genutzt und beherbergt in seiner heutigen Form ein Kino, Geschäfte und Restaurants.

«Einst war das der Eingang in die ‹verbotene Stadt›, das Sulzer Areal, wo werktags Tausende von Arbeitern durch die Gitterschranken ein- und ausgingen. Mein Vater arbeitete als Ingenieur bei Sulzer, und so bin ich wie viele andere mit ‹Sulzerbrötchen› durch die Kindheit gebracht worden. Selten gab es Besuchstage, an denen ich an der Hand des Vaters Einlass in die atemberaubend grossen, nach Metall riechenden Hallen bekam, darin riesige Schiffsdieselmotoren und geheimnisvolle Industriemaschinen. Die Deindustrialisierung bedeutete dann auch eine Entmystifizierung der verbotenen Stadt.»

Maja Ingold, Nationalrätin, ehemalige Stadträtin in Winterthur

Neumarkt 1988

«Der Neumarkt durfte lange nicht für Autos gesperrt werden, weil es hiess, die Durchfahrt sei für den Stadtverkehr lebenswichtig. Erst als man die Rudolfstrasse hinter dem Hauptbahnhof für den Gegenverkehr öffnen konnte, wurde der Neumarkt autofrei. Die Ironie der Geschichte: Heute ist auch die Rudolfstrasse ganz gesperrt.»

Paul Lehmann, ehemaliger Präsident des Bewohnervereins Altstadt, ex-Gemeinderat und langjähriger Kämpfer für eine autofreie Altstadt

Archplatz 1987

Das 1968 errichtete Parkhaus Arch war von Anfang an als Übergangsnutzung geplant. Das Volkshaus (im Bild hinten links) wurde Ende der 30er-Jahre als Versammlungsgebäude für eine Gewerkschaft gebaut. Beide Gebäude mussten dem Einkaufszentrum Archhöfe weichen, das 2013 eröffnet wurde.

«Nicht so sehr der Platz und auch nicht das später errichtete Parkhaus wecken nennenswerte Erinnerungen, als vielmehr das Volkshaus links im Bildhintergrund. Damals, noch vor dem allgemeinen Fernsehzeitalter, fanden im grossen Saal des Gewerkschaftshauses regelmässig Kinderfilmnachmittage statt. Es muss in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein, also um 1960 herum, als ich mir ein Herz fasste und die Angebetete fragte, ob sie mit mir ‹ins Kino› kommen würde. Fünf Schuljahre lang, Kindergarten mit einberechnet, hatte ich sie aus der Ferne und heimlich angehimmelt. Und dann sagte sie ja! Die Vorfreude, die Aufregung, die Zweifel, ob sie nicht im letzten Augenblick … Am grossen Tag dann die Busfahrt mit der Angebeteten von Seen in die Stadt, das gemeinsame Stehen in der langen Schlange vor dem Saaleinlass, das Rangeln um zwei gute Plätze in der vordersten Reihe. Darauf die verstohlenen Blicke im Halbdunkel des Kinosaales, die nicht ganz zufälligen kurzen Berührungen unserer Hände. Ob jetzt Charlot vorne auf der Leinwand vorüberwatschelte oder Dick und Doof einander die Köpfe einschlugen, weiss ich nicht mehr. Das – wird man verstehen – war völlig nebensächlich. Und ist es auch heute noch.»

Jean-Pierre Gubler, ehemaliger «Landbote»-Redaktor

Bahnhofplatz 1984

Coop übernahm 2002 die Warenhauskette EPA und führte deren Verkaufsstellen unter dem Namen Coop-City weiter. Der Umbau des früheren Busbahnhofs mit Glasdach wurde 2012 angegangen, das heutige Pilzdach im Sommer 2013 der Bevölkerung übergeben.

«Die alte EPA war, bevor sie diese Metallfassade bekam, ein schönes schlichtes Gebäude. Und auch die kuppelartigen Glasdächer des Busbahnhofs haben den Platz nicht unbedingt verschönert. An die EPA angebaut waren damals noch ein Tabakladen und ein Spielsalon mit einer Autorennbahn.»

Martin Gmür, «Landbote»-Redaktor

Neuwiesen 1978

Wo heute das Einkaufszentrum steht, waren vor 1978 die ehemalige Strickereifabrik Achtnich sowie das Wohlfahrtshaus (vorne im Bild), die Werkschule und eine Villa der Gebrüder Sulzer. 1982 eröffnete das Neuwiesen seine Tore.

«Anfangs war ein gigantisches Neuwiesenzentrum geplant, das bis zur Wartstrasse gereicht hätte. Gegen dieses Projekt hatte ein Komitee den Kampf aufgenommen. Es blieb dann nur noch das heutige Zentrum Neuwiesen. Die Winterthurerinnen und Winterthurer waren immer sehr kämpferisch: Nicht nur das Neuwiesen wurde stark verkleinert, die Projekte Manor an der Obergasse und Migros im Neustadthof wurden ganz verhindert.»

Paul Lehmann, ehemaliger Präsident des Bewohnervereins Altstadt und ex-Gemeinderat

Bankstrasse 1978

Die mächtige Überbauung, die heute die Geschäfte Manor und Coop beherbergt, wurde zwischen 1978 und 1980 errichtet. Auch das «Milchhüsli» an der Ecke Bankstrasse/Museumstrasse musste weichen.

«Das Milchhüsli war in meinen Kindertagen der Höhepunkt, wenn wir mit Mami in der Stadt posten waren. Es gab eine kioskartige Theke, wo sie uns eine Ovi und – wenn’s hoch kam – ein Weggli kaufte.»

Martin Gmür, «Landbote»-Redaktor

«Über lange Zeit war das Milchhüsli eine Oase der Gemütlichkeit. Es trafen sich Geschäftsleute und Hausfrauen jeglichen Alters zu einem Kaffeeschwatz im kleinen Raum mit etwa sechs Tischen. Selbstverständlich gab es auch süsses und salziges Gebäck. Zu den Znüni- und Zvierizeiten war der Betrieb enorm. Als das Ende angekündigt wurde, war das Bedauern gross. Die Neuzeit brach an und das Persönliche und Gemütliche blieb auf der Strecke.»

Heinz Bächinger, ehemaliger Hauptpost-Chef, ex-Gemeinderat und Autor des Internetlexikons «Winterthur-Glossar»

Steinberggasse 1975

«Alle Geschäftsleute der Altstadtgassen haben immer für ihre Parkplätze gekämpft. Sie haben nicht gemerkt, dass zum Beispiel die Steinberggasse nur ein Gratisparkplatz für die Marktgasse war. Um Druck zu machen, gab es einen Sitzstreik auf der Steinberggasse: Auf den Parkplätzen sonnten sich die Demonstranten in den Liegestühlen.»

Paul Lehmann, ehemaliger Präsident des Bewohnervereins Altstadt, ex-Gemeinderat und langjähriger Kämpfer für eine autofreie Altstadt

Töss 1968

1970 wurde das Zentrum Töss mit Wohnturm, Hotel und Ladenstrasse eingeweiht. Der massive Betonbau verdrängte uralte Tössemer Häuser, darunter zum Beispiel die Konditorei Glesti.

«Meine Erinnerungen an das Zentrum Töss reichen 24 Jahre zurück. Als wir damals direkt von Berlin-Kreuzberg nach Winterthur umgezogen sind, kam mir das Zentrum Töss gleich vertraut vor. Schon damals gab es hier türkische Geschäfte und einen Kebab-Imbiss. Der einzige Ort in Winterthur, der Urbanität ausstrahlte, nicht so ordentlich und herausgeputzt wie der Rest der Stadt. Auch wenn zwischenzeitlich mal Wasser durch die Decke tropfte und die ganze Ladenpassage einen eher düsteren Eindruck macht, gehe ich immer noch gern hier einkaufen. Der türkische Gemüseladen, der samstägliche Bauernmarkt und die Migros bieten fast alles, was unser Haushalt benötigt. Bibliothek, Post, PC-Doktor und Apotheke sind manchmal auch ganz nützlich. Und ein Blick in den Laden mit den orientalischen Haushaltsgegenständen – von kitschigen Springbrunnen, über Koffer bis hin zum Festtagskleid –lohnt sich immer. Inzwischen sehe ich sogar eine gewisse Schönheit in der brutalen Betonarchitektur.»

Eva Kirchheim, «Landbote»-Redaktorin

Storchenbrücke 1961

Die heutige Storchenbrücke wurde 1996 gebaut und ersetzte eine schmale Vorgängerin. 2009 wurde sie mit einer farbigen LED-Beleuchtung ausgestattet.

«Mein Schulweg führte über die alte Storchenbrücke. Am Rand des Trottoirs, gegen die Strasse hin, hatte es eine Fuge, die mit etwas Schwarzem gefüllt war, etwas Teerartigem. Wenn die Sonne im Sommer voll darauf knallte wurde diese Masse weich und man konnte mit einem Stecken darin grübeln und die Kleider verschmieren.»

Martin Gmür, «Landbote»-Redaktor

Bahnhofplatz 1951

Das erste Tram, damals noch von Pferden gezogen, wurde für das Eidgenössische Schützenfest 1895 in Betrieb genommen. 1951 wurde der Trambetrieb definitiv eingestellt, nachdem das Stimmvolk 13 Jahre zuvor der Einführung von Trolley-Bussen zugestimmt hatte.

«Als die Bevölkerung das letzte Tram verabschiedete, stand ich mit meiner Mutter an der Römerstrasse. Den Bahnhofplatz habe ich als Bub noch selber mit dem Tram befahren. Mein Vater hatte ein Milchgeschäft. Vom Milchverband ging es jeweils übers Untertor zum Restaurant Walfisch in der Marktgasse, das zu unseren Kunden zählte.»

Paul Lehmann, ehemaliger Präsident des Bewohnervereins Altstadt und ex-Gemeinderat

Text: Manuel Frick
Bilder, Gifs und Video: Manuel Frick
Historische Bilder: Winterthurer Bibliotheken, Sammlung Winterthur
Publiziert: 29.05.2017
Medium: Der Landbote