MANUEL FRICK
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Die halbe Befreiung Rojavas. Eine Reportage aus Nordsyrien

Den Abzug grosser Teile der syrischen Armee aus dem sogenannten Rojava feierten viele Kurden als Revolution: Endlich können sie ihre Kultur öffentlich ausleben und ihre Sprache sprechen. Vollends befreit ist das Gebiet jedoch nicht – und auch hier werden politische Gegner unterdrückt.

Aufrecht und ohne Zögern schreitet ein grossgewachsener Soldat durch den Markt in der nordsyrischen Stadt Kamishli. Er ist alleine. Unbewaffnet. Auf seinem rechten Oberarm prangt die Flagge des syrischen Regimes, darauf gestickt das Porträt von Bashar al-Asad. Theoretisch bewegt er sich in feindlichem Territorium: Rund ein Drittel Syriens steht heute unter der Kontrolle der PYD, der linksgerichteten kurdischen Partei der Demokratischen Union. Kamishli gilt als Hauptstadt dieser de-facto autonomen Region – und ist weit weg vom Gebiet der syrischen Regierung. Trotzdem scheint sich niemand am Anblick des Soldaten zu stören. Die Symbole des Regimes, vereinzelte Kämpfer und ein paar wenige Checkpoints gehören hier nach wie vor zum Alltag.

In Kamishli, der selbsternannten Hauptstadt der syrischen Kurden, gehört das Passieren von Regime-Checkpoints nach wie vor zum Alltag.

Den Abzug grosser Teile der syrischen Armee im Juli 2012 feierten viele Kurden als Revolution; ihr Gebiet nannten sie Rojava. Endlich konnten sie ihre Kultur öffentlich ausleben und ihre Sprache sprechen. Das kurdische Gebiet gilt seither als Vorbild für Toleranz in einer sonst von ethnischen und religiösen Spannungen zerrissenen Region. Kurden, Araber, Assyrer und Turkmenen leben Seite an Seite. 

Flaggen von Asad und Öcalan

In Kamishli ist diese Befreiung vom Regime indes auf halbem Wege stecken geblieben. Es herrscht eine seltsame Koexistenz: Während die PYD den überwiegenden Teil der Grossstadt kontrolliert, hält das Regime noch einige Inseln: am Stadtrand den Flughafen, den Grenzübergang zur Türkei und den Bahnhof. Im Zentrum das Postamt, einige Spitäler, viele Verwaltungsgebäude. Ganze Wohnquartiere bezeugen ihre Loyalität zu Bashar al-Asad: Von Balkonen hängen Flaggen des Regimes, jemand hat sogar eine Pappfigur von Asads Vater Hafez auf seinem Dach montiert. Die Zufahrten zu solchen Strassenzügen sind durch Betonblöcke, Ketten, oder mit Zement ausgegossenen Fässern blockiert. 

Ganze Wohnquartiere in Kamishli bezeugen ihre Loyalität zu Bashar al-Asad. Hier mit einer Pappfigur von Asads Vater Hafez auf einem Flachdach.

Das Regime ist in Kamishli auf vielfältige Weise präsent. Die Leute erzählen, in einigen Schulen bezahle Damaskus noch immer die Lehrkräfte. Und an der Tankstelle könne man wählen zwischen «Regime-Benzin» und dem lokal raffinierten «Rojava-Benzin», das allerdings von minderer Qualität sei. Tatsächlich ruckelt das eine oder andere Auto, wie wenn es sich am schlechten Treibstoff verschluckt hätte. 

Ein Treffen mit einem Vertreter der Administration soll für Klarheit sorgen. Der «Premierminister» der sogenannten Region Cizire, die grösste der drei kurdischen Verwaltungseinheiten, sagt zu. Sein Sitz ist in Amude, einer dreissig Kilometer von Kamishli entfernten Kleinstadt, in der das Asad-Regime keine sichtbare Präsenz hat. Das dortige Regierungsviertel hat die PYD 2014 in rund einem Dutzend Wohnblocks eingerichtet.

Die massgebende Partei PYD orientiert sich an den politischen Ideen Abdullah Öcalans, des in der Türkei inhaftierten Chefs der PKK. Sein Konterfei ist an vielen Hausmauern zu sehen.

Über den Flachdächern wehen mehrere Flaggen übereinander an einem Mast, auf der obersten prangt das Porträt von Abdullah Öcalan, dem in der Türkei inhaftierten Chef der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, an dessen politischen Ideen sich auch die PYD orientiert. Nach einigem Warten öffnet sich die Tür zum Büro des Premierministers. Wie bei allen Kaderstellen in der PYD-Regierung teilen sich auch diesen Posten ein Mann, Abdelkarim Sarukhan, und eine Frau, Nazeera Kawriya. Frage: «In welchen Bereichen der Verwaltung arbeiten Sie in Kamishli mit Damaskus zusammen?» 

«Das Regime will eine Botschaft senden»

Sarukhan ergreift das Wort, die Co-Premierministerin macht sich Notizen. «Das Regime existiert nur noch der Form halber. Seine Präsenz beschränkt sich auf eine Fläche von einem Quadratkilometer im Zentrum der Städte Kamishli und Hasaka. Diese Gebiete nennen wir Security-Square.» Seine Verwaltung kooperiere nicht mit dem Regime, man habe komplett eigenständige Institutionen aufgebaut, von der Landwirtschaft über die Bildung und Gesundheit bis hin zum Öl. Und warum kann man in Kamishli dann «Regime-Benzin» kaufen?

Wie bei allen Kaderstellen in der PYD-Regierung teilen sich auch den Posten des Premierministers der sogenannten Region Cizire ein Mann (Abdelkarim Sarukhan) und eine Frau (Nazeera Kawriya).

Damaskus beliefere den Security-Square mit Treibstoff, um den Betrieb des Flughafens aufrecht zu erhalten und die dort stationierten Angehörigen der syrischen Armee zu versorgen, erklärt Sarukhan. «Die Überschüsse verkaufen sie ausserhalb.» In Rojava gebe es zwar viel Öl, aber keine modernen Raffinerien. Ein Embargo der Nachbarländer und des Regimes verhindere den Import neuer Anlagen. «Deshalb ist unser eigenes Benzin von schlechterer Qualität»

Andere Frage: Wer betreibt die Schulen im kurdischen Territorium? «Mittlerweile laufen alle Schulen über uns, mit Ausnahme von drei oder vier im Security-Square.» Aber Damaskus bezahle noch immer den Lohn aller derjenigen, die früher in Nordsyrien unterrichteten – auch wenn sie nun zu Hause herumsässen. «Das Regime will damit die Botschaft senden, dass es noch immer präsent ist.» Asads Salärzahlungen, sagt Sarukhan, flössen im Übrigen an alle öffentlichen Angestellten des Regimes. 

Einer dieser Angestellten, ein Kurde im mittleren Alter, ist bereit über seine Situation sprechen – sofern seine Anonymität gewahrt bleibe…

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Text und Bilder: Manuel Frick
Publiziert: 01.11.2018
Medium: NZZ