MANUEL FRICK
Online Reportage

Der Disponent, mein Sklaventreiber

Den ganzen Tag an der frischen Luft, fürs Training bezahlt werden und ein bisschen schäkern mit den Kunden: So muss das Kurierleben sein. Der Autor hat sich einen Tag lang als Velokurier versucht und gemerkt, dass es für den Job viel mehr braucht als nur starke Wädli und ein Trikot.

Mein erster Auftrag kommt mit dem Zug am Hauptbahnhof an. «Der 13.57-Uhr-Doppelstöcker, im vorderen Gepäckabteil sollten zwei Sendungen liegen: Eine geht in die Altstadt, die andere nach Hegi», sagt Rolf Kägi. «Und auf dem Rückweg kannst du bei einem Arzt in der Frauenfelderstrasse eine Laborprobe abholen.» Kägi ist Geschäftsleiter des Velokuriers Winterthur und für einen Tag mein Chef. Nachdem ich ihm am Vormittag einfach nur hinterhergefahren bin, soll ich am Nachmittag versuchsweise alleine arbeiten. «Wir schmeissen dich dann einfach ins kalte Wasser», hiess es im Vorfeld.

Rolf Kägi schlängelt sich mit hohem Tempo durch Winterthurs Verkehr und kommt trotzdem entspannt bei seinen Kunden an. Der Autor hat den Velokurier begleitet.

13.57 Uhr, Gleis 5. Im Sektor D sollte das vordere Gepäckabteil zu stehen kommen, denke ich. Ich bin bereit: Die orange Warnweste habe ich übergezogen, den Schlüssel fürs Gepäckabteil griffbereit. Was hat Kägi mir gesagt? «Es sind auch schon Kuriere nach St. Gallen gefahren, weil sie nicht rechtzeitig aus dem Zug kamen.» Als die Anzeige auf eine dreiminütige Verspätung hinweist, werde ich nervös: Wird der Lokführer versuchen, die verlorene Zeit durch einen kürzeren Aufenthalt aufzuholen? Und dann kommt mir ein weiterer Spruch von Kägi in den Sinn: «Das Schöne an diesem Beruf ist, dass man nie weiss, was einen erwartet.» Ob er das wohl so gemeint hat?

14.01 Uhr, Gepäckabteil. Ich springe rechtzeitig aus dem Zug, lade die Sendungen in meinen Rucksack und trete in die Pedale. Dann klingelt das Kurier-Handy. «Bei der Druckerei an der Technikumstrasse kannst du nochmals ein paar Aufträge abholen.» Gesagt, getan. Meine Kuriertasche wird um vier Sendungen schwerer. Erst mal in die Altstadt, eines der Pakete loswerden, quittieren lassen. Nun habe ich noch sechs Stationen vor mir. Einige der Strassennamen sagen mir jedoch nichts. Eilsendungen hin oder her: Jetzt nehme ich mir erst mal ein paar Minuten Zeit, um mir in Ruhe eine Route zusammenzustellen.

«Das Schöne an diesem Beruf ist, dass man nie weiss, was einen erwartet», sagt Geschäftsleiter Rolf Kägi.

Ich arbeite einen Kunden nach dem anderen ab. Meist werde ich von den Empfangsdamen oder -herren mit einem freundlichen Grinsen und netten Worten begrüsst. Die Mehrheit duzt mich. Zwischen den Stopps bei den Kunden heisst es kräftig in die Pedale treten, gleichzeitig eine Hausnummer suchen, mich durch die Autos schlängeln. Vollgas wenn die Ampel rot zu werden droht – sonst gehen mir noch wertvolle Minuten flöten. Doch die verliere ich sowieso, denn die Adresse eines Planungsbüros in Hegi scheint nicht zu stimmen: Die Nummer 15 finde ich nicht, die 13 sieht nach unfertigem Neubau aus und in der 17 ist kein Planungsbüro. Ich frage jemanden. «Durch die Tiefgarage, dann mit dem Lift oder über die Treppe ins erste Obergeschoss», lautet die Auskunft. «Du nimmst sicher die Treppe, bist ja sportlich.» Klar. Zumindest scheint das mein Trikot zu schreien.

15.20 Uhr, nur noch zwei Adressen auf meiner Liste. «Wo bist du?», fragt mich Kägi am Telefon. Immer noch in Hegi. «Super, dann kannst du dort noch ein paar Dokumente abholen und auf dem Rückweg zur Handelskammer bringen.» Alles klar. «Die müssen aber spätestens um Viertel vor vier dort sein. Jetzt musst du dich also schon ein bisschen beeilen.» Mach ich das nicht schon?

«Du Sklaventreiber», rutscht es mir raus.

An meinem Fahrstil kann es nicht liegen, dass ich nicht schneller vorwärts komme. «Es sind die vielen kleinen Handgriffe», hat mich Kägi vorgewarnt. Tatsächlich dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis das Velo abgeschlossen, der Quittungsblock aus der riesigen Tasche gekramt, das Kurier-Handy versorgt ist in der Halterung, die plötzlich viel zu klein wirkt. Endlich komme ich beim letzten Kunden an – noch zwölf Minuten bis zur Deadline bei der Handelskammer. Ich bin verschwitzt, durstig, gestresst – doch gegenüber der Kundin soll ich gut gelaunt und freundlich auftreten. Das geht zwar so knapp, aber Zeit fürs Schäkern bleibt definitiv keine mehr.

15.45 Uhr, Handelskammer, im Lind-Quartier.Uff. «Normalerweise machen wir das so spät nicht mehr», sagt die etwas gereizte Dame, die in einer Hand den Telefonhörer hält und mit der anderen meine Sendung in Empfang nimmt. Meine folgender Auftrag führt mich nach Oberohringen, und dann weiter nach Seuzach. Ich nehme die Abkürzung auf einer schmalen Teerstrasse mitten durch die Felder. Schön. 25 Grad, Sonne, frische Luft, ein bisschen Velotraining – so habe ich mir das vorgestellt. Wie ich mich bei regnerischem Wetter bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt fühlen würde, male ich mir lieber nicht aus.

41 Kilometer, 315 Höhenmeter, ein Maximum von 58 Stundenkilometer: Die Kunden auf dieser Strecke hat der Autor am Nachmittag selbständig bedient. Quelle: Strave/GoogleMaps

16.40 Uhr, Winterthurerstrasse. Wieso fühlt sich der Anstieg Richtung Rosenberg plötzlich so steil an? Es droht ein Zuckerloch: Kalorienmangel. Zum Glück habe ich vorgesorgt und mir ein paar Riegel eingesteckt. Die Energie reicht aus, um noch vier weitere Stationen abzuklappern. Dann bin ich froh, dass das Kurier-Handy stumm bleibt.

17.45 Uhr, Lagerplatz, Feierabend. Der Chef streckt mir die Hand zum High-Five entgegen. «Du Sklaventreiber», rutscht es mir raus. «Ach komm, das war nur eine durchschnittliche Schicht», gibt er lachend zurück.

18.00 Uhr, vor dem Kraftfeld. «Für einen Anfänger war das ganz gut», sagt Kägi. Das Bier habe ich mir verdient, denke ich. «Aber die Quittungen sehen nicht alle so aus, wie sie sollten», sagt der Chef. «Und ein guter, routinierter Fahrer wäre mindestens eine halbe Stunde früher bei der Handelskammer angekommen.»

 

Text & Video: Manuel Frick
Bilder: Nathalie Guinand, Madeleine Schoder
Publiziert: 26.08.2017
Medium: Der Landbote