MANUEL FRICK
Muslime Print

Wenn Gewalt die Frauen noch entschlossener macht

Sexuelle Übergriffe auf Frauen sind in Ägypten ein Instrument der Politik. Sie haben die Bewahrung der etablierten Gesellschaftsordnung zum Ziel, bewirken jedoch das Gegenteil.

«Jeder sexistische Mann ist von Natur aus ein Konterrevolutionär», sagt Dalia Abd al-Hamid. Die Ägypterin arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte und beschäftigt sich mit Geschlechterfragen und Frauenrechten. Sie spielt auf die sexuellen Übergriffe auf Frauen an, die sich in der Regierungszeit des ehemaligen Präsidenten Muhammad Mursi in und um den Tahrirplatz in Kairo ereigneten.

Frauen spielten in der Revolution, die vor drei Jahren begann, eine grosse Rolle und waren an Demonstrationen gut vertreten. Während Männer bei den Protesten vor allem mit Tränengas und Prügeln rechnen mussten, riskierten Revolutionärinnen weitaus mehr: Einige wurden von Hunderten Männern umzingelt, die ihnen die Kleider vom Leib rissen, sie am ganzen Körper begrapschten und mit Händen und scharfen Gegenständen vergewaltigten.

Organisierte Massenübergriffe

Mindestens 25 Mal spielten sich solche Szenen am 25. Januar 2013 – dem zweiten Jahrestag des Revolutionsversuchs – auf dem Tahrirplatz ab. «Einige dieser Massenübergriffe sind von organisierten Gruppen gestartet worden», sagt Noora Flinkman von der Organisation Harass Map, die sexuelle Übergriffe in ganz Ägypten dokumentiert. Verschiedene Gruppen hätten Frauen gleichzeitig und auf ähnliche Weise attackiert, so Flinkman. Die Zahl der Angreifer sei zunächst klein, doch viele zuvor unbeteiligte Mitdemonstranten würden mitmachen und niemand schreite ein. Begünstigt wird dies durch eine Kultur, in der die alltägliche sexuelle Belästigung von Frauen als gesellschaftsfähig gilt (vgl. «Begrapschen erlaubt»).

«Seit dem Fall von Hosni Mubarak hat jede der nachfolgenden Regierungen sexuelle Gewalt gegen Demonstrantinnen eingesetzt.»

Mariam Kirollos, Mitbegründerin der Bewegung ‚Operation Anti-Sexual Harassment‘ («OpAntiSH»)

Ähnliche Massenübergriffe gab es im November 2012. Sie fanden während Demonstrationen gegen Mursis Ankündigung einer neuen Verfassung statt, die ihm praktisch unbeschränkte Machtbefugnisse verliehen hätte. Sieben Monate später erreichte die Anzahl der registrierten Massenübergriffe einen Höhepunkt: Während der rund eine Woche anhaltenden Demonstrationen, die am 30. Juni 2013 begannen und den Weg für den Militärputsch am 3. Juli ebneten, wurden Harass Map 186 Fälle gemeldet. Allerdings geht Flinkman nicht davon aus, dass es sich dabei um organisierte Attacken handelte.

Geschlechtertrennung als Lösung vorgeschlagen

Auch wenn in Ägypten niemand genau sagen kann, wer hinter diesen Attacken steckt – sofern sie denn geplant waren –, ist doch klar, dass viele Politiker die sexuelle Gewalt gegen Frauen instrumentalisieren. Frauenrechtlerinnen verweisen insbesondere auf eine Sitzung im Schura-Rat – dem ägyptischen Oberhaus – im Februar 2013. In dieser Debatte schoben einige Parlamentarier des islamistischen Blocks die Verantwortung für die Massenübergriffe auf die betroffenen Frauen selbst ab und schlugen eine Geschlechtertrennung als Lösung vor: «Frauen sollten sich während Protesten nicht unter die Männer mischen», sagte Reda al-Hefnawi von der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, dem politischen Arm der Muslimbrüder.

Islamisten bedienen damit nicht nur ihr traditionelles Frauenbild. Sie nutzen die Vorfälle auch, um die Oppositionsbewegungen zu diskreditieren, indem sie behaupten, die Plätze, an denen die Proteste stattfinden, seien voll von Kriminellen. Einige Parlamentarier verlangen von der Opposition, ihre Aufrufe zu Protesten einzustellen, solange sie die Sicherheit der Demonstrantinnen nicht gewährleisten könnten. Andere gehen noch weiter und fordern restriktivere Versammlungsgesetze.

Erst abstreiten, dann andere beschuldigen

Selbst die säkulare Opposition findet keinen glaubwürdigen Umgang mit den Vorfällen. «Am Anfang wurden die Massenübergriffe von den säkularen Parteien abgestritten, um den Ruf der Revolution nicht zu beschmutzen», sagt Dalia Abd al-Hamid. Dann, als es niemand mehr habe abstreiten können, hätten sie Mursi und die Muslimbrüder beschuldigt – trotz fehlender Beweise. Die Schuldigen nur im Umfeld der Muslimbrüder zu suchen, ist aber nur schon deshalb zu einfach, weil die Übergriffe bereits während der Herrschaft Hosni Mubaraks und seiner Nationaldemokratischen Partei begannen: Opfer waren beispielsweise Frauen, die am 25. Mai 2005 gegen eine Verfassungsänderung protestierten. Die Anpassung sollte es Mubaraks Sohn Gamal ermöglichen, die Präsidentschaft zu erben. «Zu dieser Zeit waren wir sicher, wer der Täter war: Es war der Staat, das Mubarak-Regime», sagt Abd al-Hamid.

Seit diesem Tag, den ägyptische Feministinnen den Schwarzen Mittwoch nennen, habe auch die alltägliche sexuelle Belästigung zugenommen: «Dadurch, dass der Staat so etwas tat, hat er die Massenübergriffe praktisch legalisiert. Und die Gesellschaft nimmt sich daran ein Beispiel.» Der Staat hat seit dem Schwarzen Mittwoch nicht aufgehört, sexuelle Gewalt als Instrument gegen politische Gegnerinnen einzusetzen. Besonders bekannt geworden sind die sogenannten Jungfräulichkeitstests vom 9. März 2011, die Teilnehmerinnen einer Sitzblockade über sich ergehen lassen mussten, die gegen die damalige Übergangsregierung der Streitkräfte protestierten.

In der Wüste ausgesetzt

«Seit dem Fall von Hosni Mubarak hat jede der nachfolgenden Regierungen sexuelle Gewalt gegen Demonstrantinnen eingesetzt», sagt Mariam Kirollos. Die junge Ägypterin ist Mitbegründerin einer Bewegung namens Operation Anti-Sexual Harassment («OpAntiSH»), die Frauen bei Massenübergriffen in und um den Tahrirplatz zu helfen versucht. Als jüngstes Beispiel nennt sie die Demonstration gegen Militärprozesse für Zivilisten am 26. November 2013. «Einige meiner Mitdemonstrantinnen wurden bei ihrer Verhaftung von Polizisten begrapscht.» Die Verhafteten sollen danach mitten in der Nacht auf einer Wüsten-Autobahn ausserhalb Kairos abgeladen worden sein. Unter den Verhafteten befanden sich auch bekannte Aktivistinnen wie Mona Seif und Salma Said. Sie brachten die Vorfälle zur Anzeige.

Dass Frauen wie Seif und Said überhaupt bekannt wurden, ist für die Feministinnen eine Errungenschaft der Revolution: «Die Beteiligung der ägyptischen Frauen am Widerstand hat seit der Revolution vom 25. Januar 2011 zugenommen», sagt Kirollos. Durch ihre vermehrte Teilnahme an politischen Aktivitäten – die zuvor als Männerdomäne galten – stellen Frauen die bestehenden Geschlechternormen infrage. Die Sicherheitskräfte scheinen darauf zu reagieren, indem sie die Gewalt verstärken.

Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit

Die Anliegen vieler feministischer Frauen sind laut Kirollos fest mit den ursprünglichen Zielen der Revolution verbunden: «Wir haben auf dem Tahrir für Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit protestiert. Und soziale Gerechtigkeit ist ein Kernpunkt des Feminismus.»

Immerhin haben die Bedrohungen durch Formen sexueller Gewalt nicht dazu geführt, dass sich Frauen vom Aktivismus abwenden. Im Gegenteil: «Die Übergriffe haben eine wichtige Rolle beim Entstehen der feministischen Graswurzelbewegungen gespielt», sagt Abd al-Hamid. Viele Freiwillige seien gerade aufgrund der grassierenden Gewalt zu Gruppen wie Harass Map oder «OpAntiSH» gestossen.

Heute gebe es Bewegungen, die mehr als den Schutz vor Übergriffen zum Ziel haben. Abd al-Hamid spricht von Gruppen, die Geschlechterklischees durcheinanderbringen, indem sie Frauen zur Kleiderwahl nach ihrem eigenen Geschmack oder zum Velofahren aufrufen. «Und das tun inzwischen nicht nur einzelne nichtstaatliche Organisationen, jetzt handeln auch viele Frauen.»

 

Text: Manuel Frick
Bild: Manuel Frick
Publiziert: 16.01.2014
Medium: WOZ Die Wochenzeitung