MANUEL FRICK
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Der letzte Metzger

Er schätzt den Wert eines Tieres und schlachtet nicht gerne. Doch der Beruf ist sein Leben. Sandro Lotti wird bald der letzte selbstständige Metzger in Winterthur sein.

Weisse Knochensplitter rieseln vom Sägeblatt auf das rote Fleisch des Lammes, dessen Brustkorb Sandro Lotti gerade durchtrennt. Er wischt die Späne mit der Hand beiseite. Als das Tier noch lebte, graste es in Hettlingen. Es starb in einem kleinen Schlachthaus in Rutschwil-Dägerlen, jetzt liegt es auf dem mit Chromstahl überzogenen Tisch im Metzgereigeschäft Lotti in Veltheim.

Die Einrichtung in Rutschwil wird nur für ausserplanmässige Schlachtungen gebraucht: Wenn sich ein Tier ein Bein bricht oder eine Geburt schiefläuft. Sonst lässt Metzgermeister Lotti in grossen Schlachthäusern schlachten, wie es auch Supermärkte oder Metzgereiketten tun. Was sein Geschäft von der Konkurrenz unterscheidet, ist allein schon die Verarbeitung. «Die Grossen machen alles maschinell.» Er führe das scharfe Messer so durch die Rippen einer Sau, dass ein Kotelett überall genau gleich dick sei. So könne es beim Braten nicht passieren, dass das Fleisch am Knochen noch rosa ist, während es auf der gegenüberliegenden Seite bereits austrocknet.

Direkt aus dem Schwein

Wie jeden Montag ist die Metzgerei geschlossen. Lotti steht im Verkaufsraum vor leeren Glasvitrinen und lässt seine Gedanken schweifen. Als kleiner Junge stand er oft am selben Ort, als er seine Mutter beim Einkaufen begleitete. Damals führte noch sein Vorgänger Urs Jäger das Geschäft. Manchmal ging die Türe auf, die nach hinten führt. Eine Charcuterieverkäuferin kam her­ein und brachte haufenweise Würste in den Verkaufsraum. «Ich habe mir vorgestellt, dass die Würste direkt aus dem Bauch eines Schweins kommen.» Der kleine Junge wollte unbedingt wissen, wie das funktioniert. Als die Verkäuferin dann noch fragte, ob er eine Scheibe Wurst wolle, war es um ihn geschehen. «Ich wollte Metzger werden.»

Der Vater, von Beruf Maschinist, war einverstanden. Sein Leitfaden war: Erst einen handwerklichen Beruf erlernen, dann die Selbstständigkeit. Sandro Lotti lernte im Geschäft von Urs Jäger, ar­bei­te­te in Grossbetrieben, wurde Meister. Mit 30 Jahren übernahm er Jägers Geschäft. Dann lernte er seine Lebenspartnerin kennen. «Sie hat nicht gross geschaut, als ich sagte, ich sei Metzger.» Seine Welt kannte sie bereits, war sie doch neben einer Metzgerei aufgewachsen. Der ­dominante Geruch, der in einem Fleischgeschäft jede Ecke durchdringt, war ihr vertraut. Heute arbeitet sie in seinem Geschäft.

Kein Gefallen am Töten

Was Lotti an seinem Beruf gefällt, ist nicht das Töten: «Einem Tier das Leben zu nehmen, ist schwierig.» Lotti sitzt an einem Tisch im Pausenraum, ein alter Kater streicht um seine Beine. Der Metzger streichelt die Katze. «Die ist vom Nachbarn, schläft bei mir im Büro und bekommt ab und zu ein Mümpfeli.» Selber musste er ohnehin schon lange nicht mehr töten. Sein Job ist die Verarbeitung, sein Stolz das Handwerk. «Drei Viertel der Produkte sind hausgemacht.» Seine Kunden seien oft begeistert. Etwa wenn Lotti mit frischem Koriander und Zitronenblättern aus dem Asia-Shop einen neuen Fleischkäse kreiert. «Die Männer etwas weniger, denen ist das zu gesund.»

An der Wand im Pausenraum hängt eine Stempeluhr für die Arbeitszeiterfassung. Daneben hängen die braunen Stempelkarten der Angestellten: ein Lernender, ein Metzger, eine Charcuterieverkäuferin und seine Schwägerin. Die Arbeitszeit des 45- jährigen Geschäftsinhabers und seiner Lebenspartnerin wird nicht erfasst und beträgt meistens elf Stunden am Tag.

Kritik an Fleischindustrie

Die langen Arbeitszeiten belasten ihn. Dazu kommt der Preisdruck: «Wenn das Hackfleisch im Coop Aktion ist, kostet es weniger, als ich im Einkauf bezahle.» Das stört ihn nicht nur als Geschäftsmann: Niemand brauche ein ganzes Kilo frisches Hackfleisch, für ein Gericht reichten meist 300 Gramm. «Ein Tier hat einen Wert.» Doch mit der industrialisierten Fleischwirtschaft ginge dieser vergessen.

Wenn Ende Monat die Metzgerei Hotz am Untertor zugeht, wird Sandro Lotti der letzte selbstständige Metzger in Winterthur sein. Wie lange er dem Druck noch standhalten kann, weiss er selbst nicht genau. «Manchmal werfe ich die Messer weg und denke: Ich mag nicht mehr.» Er fühle sich wie in einem Hamsterrad und spiele mit dem Gedanken, den Laden aufzugeben. Einen Bauernhof hätte er gerne. Mit vielen Haustieren, die nicht zur Schlachtbank geführt werden.

 

Text: Manuel Frick
Bild: Melanie Duchene
Publiziert: 06.03.2016
Medium: Der Landbote