MANUEL FRICK
Porträt Print

«Ich lebe hier seit neun Jahren illegal»

Sans-Papiers leben mitten unter uns, doch die Behörden dürfen nichts davon wissen. So geht es auch Maria Fernandez* aus Südamerika. Die Mittdreissigerin erzählt, wie den Behörden ausweicht.

«Ausser meinen besten fünf Freundinnen habe ich niemandem von meinem Geheimnis erzählt. Ich bin vor neun Jahren aus Südamerika ausgewandert und lebe seitdem illegal in der Schweiz. Ich bin zwar regulär eingereist und habe einen gültigen Pass, den ich ständig auf mir trage. Aber eigentlich hätte ich nicht länger als 90 Tage bleiben dürfen. Meine besten Freundinnen wollte ich nicht anlügen. Ich kenne sie schon lange, habe Vertrauen zu ihnen. Ich weiss, dass sie es nicht missbrauchen würden.

«Ich habe ja nichts Schlechtes gemacht.»

Anderen Personen kann ich nichts sagen. Sie könnten mich verraten und dann müsste ich vielleicht das Land verlassen. Ich will aber nicht gehen, denn mein Lebensmittelpunkt ist in der Schweiz. Und auch der meiner Tochter: Ich habe sie hier zur Welt gebracht, sie ist hier aufgewachsen und geht hier in den Kindergarten. Sie kennt nichts anderes – das Herkunftsland ihrer Mutter schon gar nicht. Der Vater meiner Tochter stammt nicht aus Europa, also hat auch meine Tochter keinen legalen Status. Sie weiss es aber noch nicht.

Problem Krankenversicherung

Ich war sehr glücklich, als ich schwanger wurde. Gedanken habe ich mir nicht viele gemacht. Dass ich eine Krankenversicherung für die Geburt im Spital brauchen würde zum Beispiel. Eine Freundin hat mich an eine unabhängige Beratungsstelle verwiesen. Die haben mir geholfen, eine Versicherung abzuschliessen. Auf dem Zivilstandsamt gab es keine Probleme, die haben die Geburt registriert und keine Meldung gemacht.

Anfangs hatte ich viel Angst vor der Polizei. Mit den Jahren verschwand auch die Angst. Die können schliesslich nicht an meinem Äusseren ablesen, dass ich keine Aufenthaltsbewilligung habe. Eine Freundin fragte mich einmal, als wir an einer Polizeistreife vorbeigingen, ob ich keine Angst habe. ‹Nein›, sagte ich. ‹Ich habe ja nichts Schlechtes gemacht.› Am sichersten fühle ich mich, wenn ich mit meiner Tochter unterwegs bin. Wir gehen in Winterthur oft zusammen in die Badi oder in Parks. Wir sehen aus wie eine normale Mutter mit ihrem Kind. Ich denke nicht, dass jemand Verdacht schöpfen könnte. Die Kindergärtnerin meiner Tochter erfuhr bei der Einschulung, dass wir illegal hier leben. Sie hat mir gesagt, dass ich mit niemandem darüber reden dürfe.

Teure Universitäten

In Südamerika habe ich drei weitere Kinder. Die Älteste hat die Mittelschule gerade abgeschlossen. Eigentlich wollte sie nun studieren, doch finanziell ist das kaum machbar. Selbst an den staatlichen Unis muss man Gebühren für die Examen bezahlen und das Schulmaterial kostet viel Geld. Während der Schule ist meine älteste Tochter jeweils abends arbeiten gegangen. Verdient hat sie aber praktisch nichts. Nun will sie Polizistin werden, doch die teure Uniform müsste sie selber bezahlen.

Ich bin in die Schweiz gekommen, weil ich in Südamerika keine Perspektive hatte und nicht für den Unterhalt meiner Kinder hätte aufkommen können. Hier konnte ich arbeiten und meinen Kindern bisher eine gute Ausbildung finanzieren. Ob ich meiner Ältesten auf ihrem weiteren Weg helfen kann, weiss ich allerdings nicht. Mit meinem bescheidenen Einkommen von 1600 Franken ist das schwierig. Ich arbeite seit meiner Ankunft als Kinderbetreuerin in einem Privathaushalt. Den Job hat mir eine Freundin vermittelt, bevor ich in die Schweiz gekommen bin. Nach neun Jahren braucht das Kind keine Betreuerin mehr – und ich stehe vielleicht bald ohne Job da. Da es in der Schweiz ohnehin schon Arbeitslose gibt, ist es für Illegale noch viel schwieriger, etwas zu finden. Und ohne Arbeit kann ich hier nicht leben. Manchmal, wenn es schwierig ist, sage ich mir: ‹Jetzt gehe ich.›

Niemals die Adresse bekannt geben

Sorgen macht mir auch die Frage, wo ich in Zukunft wohnen kann. Die letzten Jahre habe ich bei meinem Partner gelebt. Obwohl er nicht der Vater meiner Tochter ist, hat sie ihm Papa gesagt. Meinen Ex-Partner wollte ich nie zu einer Heirat drängen, auch wenn ich so zu einer Aufenthaltsbewilligung gekommen wäre. Vor einigen Monaten haben wir uns getrennt. Solange meine Tochter noch in den Kindergarten ging, konnten wir bei ihm bleiben. Vor kurzem zogen wir zu einer Freundin. Ich dürfe es nur ja niemandem erzählen, sagt sie. Und niemals meine Adresse bekannt geben. Sie fürchtet sich vor einer Busse. Ich würde so gerne normal hier leben und arbeiten. Aber ich weiss, dass es dazu keine Möglichkeit gibt.»

*Maria Fernandez: Das Gespräch mit Maria Fernandez (Name von der Redaktion geändert) fand im Büro des Vereins Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich statt.


Die Rechtslage

Wer nie ein Aufenthaltsgesuch gestellt hat oder wessen Antrag abgelehnt wurde, wird als Sans-Papiers bezeichnet. Da diese Menschen keinen geregelten Aufenthaltsstatus haben, werden sie statistisch nicht erfasst. Bei der Gewerkschaft Unia schätzt man ihre Anzahl auf bis zu 200 000 Personen, das Staatssekretariat für Migration (SEM) geht in einer Studie von 76 000 aus. Laut SEM sind etwa neun von zehn erwachsenen Sans-Papiers erwerbstätig, viele in prekären Arbeitsbedingungen. Sie arbeiten häufig in Privathaushalten, im Bau- oder Gastgewerbe.

Sans-Papiers haben kaum Chancen auf eine Aufenthaltsbewilligung. Sie können praktisch nur heiraten oder ein Härtefallgesuch stellen. Laut Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) ist die Bewilligungspraxis im Kanton Zürich sehr restriktiv und bietet deshalb keinen wirklichen Ausweg aus der Irregularität.

Auch wenn Sans-Papiers «Illegale» genannt werden, verfügen sie über Grundrechte, die sich etwa aus der Bundesverfassung oder der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten lassen. SPAZ nennt einige Beispiele, bei denen die involvierten Institutionen den irregulären Aufenthalt nicht der Polizei melden dürfen:

• Krankenkasse: Die Versicherer sind zur Aufnahme verpflichtet.

• Sozialversicherungen: Auch bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen muss der Arbeitgeber seine Angestellten bei den Sozialversicherungen anmelden.

• Schule und Kindergarten: Öffentliche Schulen müssen alle in der Schweiz lebenden Kinder unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus einschulen.

• Geburtsregistrierung: Das Spital meldet die Geburt dem Zivilstandsamt. Ist die Mutter bei der Einwohnerkontrolle nicht registriert, wird sie mit Wohnsitz im Herkunftsland erfasst – ähnlich wie eine Touristin.


 

Text: Manuel Frick
Bild: Pixabay creative-commons
Publiziert: 29.07.2016
Medium: Der Landbote