MANUEL FRICK
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Ex-Syngenta-Forscher kritisiert die Pestizidpolitik des Bundes

Der Bund bevorzuge im Kampf gegen die Kirschessigfliege teure und künstliche Pestizide, findet ein Ex-Syngenta-Forscher. Die natürliche Alternative, die er propagiert, gilt als illegal.

Wer gerne ein Glas Schweizer Wein geniesst, läuft Gefahr, einen Cocktail aus Pestiziden mitzutrinken. Diesen Schluss legt eine kürzlich verfasste Greenpeace-Studie nahe. Die Umweltorganisation beauftragte ein unabhängiges Labor, Proben von zehn Schweizer Weinen und aus sechs Weinbergen zu untersuchen. Das Resultat: Insgesamt wurden 33 verschiedene Pestizide gefunden. Vier davon sind gemäss Pflanzenschutzmittelverzeichnis des Bundes im Weinbau nicht regulär zugelassen. So hat das Labor auch in einem Hallauer Wein mit Jahrgang 2015 ein entsprechendes Pestizid gefunden.

Giftig für viele Nützlinge

Die Erklärung ist simpel: Sowohl im 2015 wie auch in diesem Jahr hat das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) das im Hallauer Wein gefundene Pestizid temporär für die Bekämpfung der Kirschessigfliege zugelassen. Die Bewilligung wurde erteilt, «obwohl das Insektizid neurotoxisch wirkt und für viele Nützlinge äusserst giftig ist», schreibt Greenpeace. Insgesamt hat das BLW seit 2012 eine ganze Reihe chemisch-synthetischer Pestizide zur Bekämpfung der Kirschessigfliege zugelassen – einige temporär, andere mittlerweile auch regulär. Damit wird die lästige Fliege nicht nur im Weinbau sondern auch in der Obst- und Beerenproduktion bekämpft.

«Ich nehme an, die zuständigen  Stellen stehen unter  starkem Druck der Agrochemie-Lobby.»

Heinz Gerber, ehemaliger Produktentwickler bei Syngenta

Die Kirschessigfliege ist ein Schädling, gegen den hiesige Landwirte erst seit kurzem kämpfen. Sie stammt aus Südostasien und wurde erstmals 2011 in der Schweiz nachgewiesen. Das schlimmste Jahr war bisher 2014: Das Insekt vernichtete laut Schätzungen bis zu 10 Prozent der Traubenernte. Aufgrund der neuen Bedrohung für die Schweizer Obst- und Beerenproduktion machte sich die Forschung auf die Suche nach Lösungsansätzen.

Einer, der eine Alternative zu den bisher bekannten Spritzmitteln gefunden haben will, ist der Rüdlinger Agrobiologe Heinz Gerber. Beim Agrochemie-Riesen Syngenta war Gerber 40 Jahre lang als Produktentwickler tätig. Vor zehn Jahren liess er sich vorzeitig pensionieren und gründete in Rüdlingen eine eigene Firma. «Ich wollte Produkte entwickeln, deren Vermarktung sich für die Agrochemiekonzerne nicht lohnt», sagt Gerber. Er stellt hauptsächlich Düngemittel her, die er direkt an Schweizer Bauern vertreibt. Vor zwei Jahren wurde Gerber auf ein natürliches Mittel gegen die Kirschessigfliege aufmerksam, das in Deutschland getestet wurde.

Bienenschonende Alternative

Gerber schaute sich die Versuchsflächen an und war begeistert. «Auf den behandelten Kulturen war keine Kirschessigfliege zu sehen. In den Kontrollparzellen gleich daneben wimmelte es davon.» Die Bauern spritzten Löschkalk: eine Calciumverbindung mit stark basischen Eigenschaften. «Das sorgt dafür, dass die Frucht von den Insekten nicht mehr als attraktiv empfunden wird», sagt Gerber. Der Löschkalk wirke dehydrierend auf Insekten wie die Kirschessigfliege. Der Pflanze selbst werde aber kein Wasser entzogen, da sie von einer Wachsschicht geschützt sei. Diese hätten auch Bienen und deshalb sei das Mittel bienenschonend. «Auch für den Boden ist es kein Problem.» Löschkalk reagiere mit der Luft und werde nach einigen Tagen zu einer Calciumverbindung umgewandelt, die so auch in Eierschalen vorkommt.

Zusammen mit dem eidgenössischen Forschungszentrum Agroscope startete Gerber noch im selben Jahr Versuche im Wallis. Agroscope, das dem BLW angegeliedert ist, hatte bereits 2011 eine Arbeitsgruppe für die Bekämpfung der Kirschessigfliege ins Leben gerufen. Sie besteht aus Experten des Forschungszentrums, Vertretern der Kantone und der Produzenten sowie aus Fachleuten der Branche. Die Erkenntnisse aus den Versuchen im Wallis überzeugen nicht nur Gerber, sondern auch die Verantwortliche der eidgenössischen Forschungsanstalt.

«Die Tests im 2014 zeigten gute Resultate», sagt die Biologin Catherine Baroffio, Sprecherin der zuständigen Arbeitsgruppe bei Agroscope. Gerber erklärt, was der grosse Vorteil des Löschkalks ist: «Bei regelmässigem Einsatz kommt ein Produzent gar nie in die Situation, dass er bei der Bekämpfung der Kirschessigfliege auf Pestizide angewiesen ist.» Das Ziel, den Einsatz von chemischen Mitteln zu reduzieren, entspricht auch der Strategie des Bundes. Agroscope führte weitere Versuche durch, die Ergebnisse bewertet Baroffio positiv. „Aber auch der Kalk bietet keinen hundertprozentigen Schutz“, sagt sie.

Bund rät von Gebrauch ab

Trotz guten Forschungsresultaten rät das BLW bis heute davon ab, das Mittel einzusetzen. «Löschkalk ist nicht als Pflanzenschutzmittel bewilligt, weil die Erfahrungen fehlen, um das Produkt zu bewerten», sagt BLW-Sprecher Jürg Jordi. Ziel des Zulassungsverfahrens sei es, sicher zu sein, «dass das Produkt wirkt und keine unannehmbaren Nebenwirkungen auf Mensch und Umwelt hat.» Bei nachgewiesenem Befall mit der Kirschessigfliege durften stattdessen auch dieses Jahr eine Reihe bienenschädlicher Mittel verwendet werden. Das BLW begründet dies damit, dass deren «Nebenwirkungen» besser einschätzbar sind, weil die Produkte bereits eine Zulassung für die Bekämpfung anderer Insekten haben.

«Es gibt keinen Druck von grossen Agrochemie-Firmen.»

Catherine Baroffio, Mitglied des Expertenteams, das für die Zulassung mitverantwortlich ist

Der Agrobiologe Gerber kann die Argumentation des Bundes nicht nachvollziehen. «Löschkalk wird in der Landwirtschaft seit über hundert Jahren verwendet. Dieser Erfahrungsschatz sollte reichen, um die Nebenwirkungen einschätzen zu können.» Tatsächlich sind im Pflanzenschutzmittelverzeichnis des BLW mehrere Produkte aufgelistet, die zu 80 Prozent aus Löschkalk bestehen, und bei Bauern unter dem Namen Bordeaux-Brühe bekannt sind. Die Zulassung gilt jedoch nicht für die Bekämpfung von Insekten, sondern nur zur Behandlung von Pilz- oder Bakterienerkrankungen.

Industrie zeigt kein Interesse

Das BLW erlaubt den Bauern den Einsatz von Löschkalk auch zu anderen Zwecken: Im Stall wird die Calciumverbindung zum Weisseln der Wände sowie als Desinfektionsmittel eingesetzt. Im konventionellen Landbau ist Löschkalk zudem als Blattdünger zugelassen. Will jedoch ein Bauer auf den Pflanzen, die er mit Löschkalk düngt, das selbe Mittel verwenden, um damit Insekten zu bekämpfen, ist dies nicht erlaubt. Obwohl Löschkalk ein vielverprechendes Mittel zur Bekämpfung der Kirschessigfliege zu sein scheint, ist Gerber kein einziger Pflanzenschutzmittel-Hersteller bekannt, der sich um eine entsprechende Zulassung als Insektizid bemüht.

«Für die Agrochemie-Konzerne lohnt sich eine Zulassung einfach nicht.» So erklärt sich der Ex-Syngenta-Forscher Gerber die Situation. Um eine Bewilligung zu erhalten, müsse man ein umfangreiches Dossier mit Studien zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen einreichen. «Das kostet einige Millionen Franken», sagt Gerber. «Diese Investition rentiert nur bei hohen Produktepreisen.» Im Vergleich zu vielen chemisch-synthetischen Mitteln zur Bekämpfung der Kirschessigfliege sei Löschkalk aber rund 100 Mal billiger. «Einen 25-Kilo-Sack gibt es im Baustoffhandel schon für elf Franken.»

Bauern wünschen Zulassung

Erst im Frühling 2016 wurde beim BLW ein entsprechendes Gesuch eingereicht – vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl). «Die gesamte Branche wünscht eine solche Zulassung», sagt Bernhard Speiser, der sich beim Fibl mit landwirtschaftlichen Betriebsmitteln beschäftigt. «Das Fibl hat dann die Initiative übernommen und Agroscope hat ihre Daten zur Verfügung gestellt.» Das Gesuch ist derzeit beim Bund hängig.

«Die gesamte Branche wünscht eine solche Zulassung.»

Bernhard Speiser, Forschungsinstitut für  biologischen Landbau

Gerber, der seit 2014 vom Löschkalk überzeugt ist, betrachtet die bürokratischen Vorgänge rund um die Zulassung mit Skepsis. «Ich verstehe nicht, wieso es überhaupt eine Zulassung für ein Produkt braucht, das bereits im grossen Stil verwendet wird.» Zudem dauere das Zulassungsverfahren viel zu lange. «Ich nehme an, die zuständigen Stellen stehen unter starkem Druck der Agrochemie-Lobby, die eine Zulassung verhindern oder zumindest verzögern will», sagt Gerber.

Die Vorwürfe Gerbers seien völlig aus der Luft gegriffen, sagt Agroscope-Forscherin Baroffio. Sie ist als eine von 15 Expertinnen und Experten für eine allfällige Zulassung mitverantwortlich. «Es gibt keinen Druck von grossen Agrochemie-Firmen.» Es sei völlig normal, dass ein Bewilligungsverfahren rund zwei Jahre dauere, weil die Experten alle Konsequenzen eines grossflächigen und langfristigen Einsatzes untersuchen müssten. „Wir wollen genau wissen, was die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit sowie auf die Pflanzen- und Bodenqualität sind.“

Spritzen ohne Bewilligung

Viele Bauern wollen jedoch nicht warten und verwenden den Löschkalk bereits heute – trotz fehlender Bewilligung. Ein Beerenproduzent aus der Region berichtet von seinen diesjährigen Erfahrungen: «So lange wir zwei Mal pro Woche Kalk einsetzten, hatten wir die Situation im Griff. Sobald wir weniger oft spritzten, kam die Fliege zurück.»

Der Agrobiologe Gerber verkauft den Löschkalk zwar nicht selber, empfiehlt jedoch allen seinen Kunden dessen Einsatz und erklärt ihnen die Handhabung. «In der ganzen Schweiz setzen bereits knapp hundert Beerenbauern auf Löschkalk.» Auch im Weinbau sei er beliebt: Er wisse von sicher 50 Selbstkelterern, die das Mittel heimlich einsetzen. Bei der Kalkfabrik Netstal, die in der Nähe von Glarus Kalkstein abbaut, wird die Nachfrage der Bauern bestätigt: «Es kamen immer wieder Anfragen von Landwirten, die Löschkalk gegen die Kirschessigfliege einsetzen wollten», sagt Entwicklungsleiter Dirk Sewing.

Die Bauern bewegen sich damit in einem rechtlichen Graubereich. Erlaubt ist der Einsatz von Löschkalk nur im Rahmen eines bewilligten Versuchs. Wer das Mittel jedoch ohne Bewilligung einsetzt, muss mit Sanktionen rechnen. Den Betrieben drohen etwa Kürzungen bei den Direktzahlungen des Bundes. Der Beerenproduzent aus der Region erklärt, wie er allfällige Sanktionen umgeht: «Ich trage den Löschkalk als Dünger ein. So gibt es keine Probleme.»

 

Text: Manuel Frick
Bild: zvg / Heinz Gerber

Publiziert: 16.11.2016
Medium: Der Landbote