MANUEL FRICK
Kommentar Muslime Politik

Ein Rechtsstaat muss «Lies!» ertragen können

Leitartikel zur Forderung Mario Fehrs, die «Lies!»-Aktion aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.

Mario Fehr hat die Stimmung in der Bevölkerung punktgenau getroffen. Der kantonale Sicherheitsdirektor empfahl den Gemeinden letzte Woche, keine «Lies!»-Stände mehr zu bewilligen und mobile Koranverteiler polizeilich wegweisen zu lassen. Das freut die meisten Winterthurerinnen und Winterthurer, die sich schon lange an den bärtigen Männern in der Marktgasse gestört haben.

Auf den ersten Blick legitim

Von den missionarischen Aktivitäten im öffentlichen Raum sind viele genervt – insbesondere wenn die beworbene Religion, hier also der Islam, als fremd und rückständig empfunden wird. Ein Verbot aus diesem Grund wäre jedoch ein offensichtlicher Verstoss gegen die Religionsfreiheit. Fehrs Begründung zielt denn auch in eine andere Richtung. Die «Lies!»-Aktion sei gefährlich, weil sie unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit für demokratiefeindliche Ziele werbe. Diese Angst ist begründet: Laut Recherchen des «Tages-Anzeigers» sind mindestens elf Koranverteiler aus der Schweiz nach Syrien oder in den Irak gereist oder hatten die Absicht, sich einer dortigen Terrorbewegung anzuschliessen. Das Verbannen von «Lies!» aus dem öffentlichen Raum scheint deshalb auf den ersten Blick legitim und konsequent. Auch der «Landbote» hat schon gefordert, dass die Gruppierung verboten oder zumindest unter genauere Kontrolle gestellt wird.

Es droht ein endloses Katz-und-Maus-Spiel.

Auf den zweiten Blick stellen sich jedoch einige Fragen. Die «Lies!»-Aktion ist zwar das Milieu, in dem sich gewaltbereite Fundamentalisten gerne tummeln. Doch ist sie auch die Ursache derer Radikalisierung? Ausgerechnet der Nachrichtendienst des Bundes scheint daran zu zweifeln. «Es bestehen keine gesicherten Erkenntnisse, dass die auch hierzulande festgestellten Standaktionen gewalttätig-extremistische oder terroristische Tätigkeiten fördern und damit die innere Sicherheit gefährden», heisst es im jüngsten Lagebericht. Der Basler Staatsrechtler Markus Schefer findet ebenfalls, es bräuchte deutlichere Hinweise. Auch wenn einige Koranverteiler zu einem Sicherheitsproblem wurden: Gegen eine ganze Gruppierung repressiv vorzugehen, ist eines Rechtsstaats unwürdig, solange keine Beweise auf dem Tisch liegen.

Ein Verbot ist nur schwer umsetzbar

Abgesehen von rechtsstaatlichen Bedenken, wird die Massnahme nur schwer umsetzbar sein. Wer genau ist davon betroffen? Im Jahr 2017 seien keine Standaktionen durchgeführt worden, sagte diese Woche die Sprecherin der Winterthurer Polizei. Das liegt daran, dass niemand im Namen der Organisation ein Gesuch gestellt hat. Trotzdem wurden in der Marktgasse mehrmals Korane von «Lies!» verteilt. Sollte dieses Merkmal ausreichen, wäre es ein Leichtes, auf Koranausgaben umzusteigen, die nicht von «Lies!» stammen. Steht der Gesuchsteller als Person im Fokus, könnte er einen unauffälligen Glaubensbruder vorschicken. Es droht ein endloses Katz- und-Maus-Spiel. In Deutschland, wo «Lies!» seit letztem Herbst verboten ist, werden heute in ähnlicher Aufmachung Prophetenbiografien in den Fussgängerzonen verteilt.

Es braucht eine Gesellschaft, die ihren Werten auch angesichts des bedrohlichen Phänomens Islamismus treu bleibt.

Ein Augenschein am Stand in der Marktgasse oder ein Gespräch mit einem Koranverteiler zeigt, dass die viel zitierten Propaganda-Aktivitäten hierzulande nicht so offensichtlich ablaufen, wie oft suggeriert wird. Niemand zeigt Sympathien für den IS oder al-Qaida. Auch eine Einladung zum Jihad bleibt aus. Wer soll also am helllichten Tag in der Marktgasse radikalisiert werden? Wohl kaum die neugierigen Passanten, die einen Koran mitnehmen, nur um ihn zu Hause im Bücherregal verstauben zu lassen. Die Koranverteiler radikalisieren sich in erster Linie selber. Die gemeinsamen Aktionen stärken den Zusammenhalt und liefern gute Bilder und Videos, die auf Facebook zur Anwerbung neuer Mitglieder benützt werden. Das Netzwerk wächst im Internet, im Kampfsportklub, am Kebabstand – nicht in der Marktgasse. Die Repression ist deshalb nicht nur wenig effektiv, sondern könnte sogar kontraproduktiv sein: Der Winterthurer Standbetreiber hat das Vorgehen des Sicherheitsdirektors als «Hetze» und «sehr diskriminierend» bezeichnet. Das Gefühl, ausgegrenzt zu werden, wird wohl auch gefährdete Jugendliche eher dazu bewegen, sich noch mehr von der Gesellschaft zurückziehen.

Nicht alle Islamisten sind gewaltbereit

Mario Fehr zielt mit seiner Massnahme auf Leute mit «islamistischem oder salafistischem Gedankengut», wie er in einem Interview deutlich machte. Sieht man sich die Youtube-Videos des deutschen «<Lies!»-Gründers Ibrahim Abou-Nagie an, wird klar, dass er zu diesen Leuten zählt. Sowohl der Islamismus wie auch der Salafismus akzeptieren die Souveränität des Volkes nicht und möchten sie durch eine Souveränität Gottes ersetzen. Ihre Auslegung der Religion soll Rechtsgrundlage werden. Das ist antidemokratisch und gefährlich. In beiden Strömungen gibt es Gruppen, die ihre Ziele mit Gewalt verfolgen, hingegen aber auch solche, die sich innerhalb der Grenzen des Rechtsstaates bewegen. Sobald diese Grenzen überschritten werden, muss der Staat durchgreifen. Und das tut er auch: Die Bundesanwaltschaft führt zurzeit mehrere Verfahren gegen Personen aus dem «Lies!»-Umfeld. Analog geht die Schweiz auch mit links- und rechtsextremen Gruppierungen um, in denen ebenfalls gewaltbereite Exponenten zu finden sind. Es gibt keinen Grund, die Koranverteiler anders zu behandeln.

Die Waffen eines Rechtsstaates

Ein pauschales Verbot klingt zuerst einmal gut, wird aber wenig bringen. Was es braucht, ist nicht Symbolpolitik, sondern genaues Hinschauen, Durchgreifen bei strafrechtlich relevanten Tätigkeiten und eine Gesellschaft, die ihren Werten auch angesichts des bedrohlichen Phänomens Islamismus treu bleibt. Das sind die Waffen eines demokratischen Rechtsstaates.

 

Text: Manuel Frick
Bild: Hermann Traub / pixabay creative-commons
Publiziert: 13.05.2017
Medium: Der Landbote