MANUEL FRICK
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Die Überwachung von Sozialhilfebezügern steht rechtlich auf wackligen Beinen

Unter Juristen kommen Zweifel an der Legalität von Sozialdetektiven im Kanton Zürich auf. Der Fall einer Bezügerin aus der Region Winterthur zeigt, wie eine solche Observation ablaufen kann.

Herbst 2016, eine Gemeinde in der Region. Das Sozialamt beauftragt eine Privatdetektei, eine Einwohnerin zu beschatten. Ziel ist es, «die Verbindung zwischen Frau Meier Anna und Herrn Fischer Bernd (Namen geändert) abzuklären, um die Form ihres Zusammenlebens aufzuzeigen». So steht es im Abschlussbericht der Detektei, welcher dem «Landboten» vorliegt.

Die Gemeinde hat die knapp 50-jährige Anna Meier im Verdacht, zu Unrecht Sozialhilfe zu beziehen. Meier lebt zu diesem Zeitpunkt in einer Wohnung mit Bernd Fischer, der über ein regelmässiges Einkommen verfügt. Handelt es sich bei dieser Beziehung nicht um eine Wohngemeinschaft – wie von Meier deklariert –, sondern um ein Konkubinat, könnte die Gemeinde verlangen, dass Fischer einen Unterstützungsbeitrag leistet. Die Zahlungen an Meier würden gekürzt oder ganz gestrichen.

Teurer Missbrauch

Wenn die Sozialhilfe missbraucht wird, kostet das die Gemeinden viel Geld. Alleine in der Stadt Winterthur betrug die Deliktsumme der 2015 aufgedeckten Fälle über 700 000 Franken. Wie der Missbrauch bekämpft wird, hängt nicht nur von der jeweiligen Gemeinde ab, sondern meist auch von der Dringlichkeit des Verdachts. Die Skala reicht von Gesprächen bis zu verdeckten Ermittlungen. Viele Gemeinden in der Region arbeiten mit privaten Firmen zusammen, die eine sogenannte «Sozialinspektion» anbieten. Im Angebot dieser Firmen sind auch Observationen.

Frau Meiers Fall liegt nun in den Händen der Privatdetektei. Im Abstand von rund 14 Tagen beobachten zwei Mitarbeiter ihre Wohnung. Am ersten Überwachungstag bleiben sie neun Stunden lang. «Überwachung beendet. MA nicht in Erscheinung getreten», schreiben sie um 16 Uhr ins Protokoll. Auch am zweiten Tag: Drei Stunden ohne einen einzigen Sichtkontakt zur Zielperson.

«Im Jumbo war  für die Betrachter klar erkennbar, dass beide sich für Parkett interessierten.»

Auszug aus dem Observationsbericht einer Privatdetektei

Im Gespräch mit dem «Landboten» sagt Meier, sie sei arbeitslos, seit ihr letzter Arbeitgeber aus wirtschaftlichen Gründen die Kündigung ausgesprochen hatte. Trotz unzähliger Bewerbungen erhalte sie nur Absagen und sei deshalb auf die Sozialhilfe angewiesen. Zum Missbrauchsverdacht sagt Meier: «Herr Fischer ist mein Ex-Freund. Wir lebten nur noch aus finanziellen Gründen in derselben Wohnung. Eine reine Zweck-WG.» Davon profitiere auch das Sozialamt, denn je tiefer die Mietkosten, desto tiefer der Gemeindebeitrag.

Die Privatdetektive setzen ihre Arbeit fort. Endlich, am dritten Tag der Beschattung, tut sich etwas bei Meier und Fischer. Sie fahren mit dem Auto weg, die Privatdetektive hinterher, die Videokamera läuft. Das mutmassliche Paar betritt eine Jumbo-Filiale und lässt sich von einem Verkäufer beraten. Fragen zu Parkettbelägen. Die Kamera der Detektive läuft weiter, sie protokollieren: «In der Folge war kurz hörbar, wie von einer zu verlegenden Fläche von etwa 28 Quadratmetern gesprochen wurde.»

Rund eineinhalb Stunden verfolgen die Detektive Meier und Fischer durch das Einkaufszentrum. Von Geschäft zu Geschäft. Die Bemerkungen im Schlussbericht sind dennoch wenig aufschlussreich. Das härteste Ermittlungsergebnis aus 34 Mannstunden Überwachung: «Im Jumbo war für die Betrachter klar erkennbar, dass beide sich für Parkett interessierten.»

Sozialhilfe gestrichen

Noch während die Ermittlungen laufen, stoppt das Sozialamt die Zahlungen. Meier legt Rekurs ein. Als das Sozialamt dazu Stellung nimmt, erfährt sie zum ersten Mal von der Überwachung. Das Sozialamt stützt sich in seiner Stel-lungnahme auch auf den Bericht der Detektei, der inzwischen vorliegt. Daraus könne geschlossen werden, dass Fischer mehr als nur ein «Wohn-Zweck-Partner» sei, schreibt die Gemeinde. «Es kann angenommen werden, dass bei einer reinen Zweckwohngemeinschaft keine Baumaterialien etc. angeschaut werden.»

«Ich stand total neben mir», sagt Meier. Sie habe beim Sozialamt nachgefragt, auf welcher rechtlichen Grundlage die Überwachung veranlasst wurde. Die Gemeinde habe auf Paragraf 18 des kantonalen Sozialhilfegesetzes verwiesen. Dieser beschreibt allerdings nicht explizit die Erlaubnis der Fürsorgebehörde zur Überwachung, sondern lediglich dazu, «Auskünfte bei Dritten einzuholen».

Die Frage, ob das Sozialhilfegesetz eine genügende Rechtsgrundlage darstellt, beschäftigte Ende Oktober auch den Zürcher Regierungsrat. Kurz zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Unfallversicherungsfall einer Zürcherin entschieden, dass die Observation mithilfe von Privatdetektiven gegen das Recht auf Schutz des Privatlebens verstosse. Jeder Eingriff in dieses Recht bedürfe einer präzisen rechtlichen Grundlage, die im Fall der Zürcherin nicht gegeben sei. Das EGMR-Urteil bezieht sich zwar auf einen Unfallversicherungsfall, könnte aber allenfalls auch Auswirkungen auf Sozialhilfefälle haben.

Anfrage im Kantonsrat

Das sahen auch FDP-Kantonsrätin Linda Camenisch sowie zwei ihrer Ratskollegen so. Sie wollten vom Regierungsrat wissen, ob die Gemeinden weiterhin Sozialdetektive einsetzen dürften. «Wir wollten sichergehen, weil im Kanton mehrere Verfahren laufen, in denen Sozialdetektive eingesetzt werden», sagt Camenisch. Der Regierungsrat gab grünes Licht und berief sich in seiner Antwort auf den knapp formulierten Paragrafen 18, der auch Frau Meier als Rechtsgrundlage angegeben wurde.

Frau Meier holt sich indes Hilfe bei Pierre Heusser, einem auf Sozialhilferecht spezialisierten Anwalt der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht. Heusser kommt zu einem völlig anderen Schluss als der Regierungsrat: «Zurzeit müssen sämtliche verdeckten Observationen als illegal bezeichnet werden.» Denn von einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage könne gemäss dem EGMR-Entscheid nur die Rede sein, wenn diese detailliert festhält, unter welchen Voraussetzungen, von welcher Behörde und nach welchem Verfahren ein Sozialhilfebezüger überwacht werden kann. «Und es muss klar sein, wie sich Betroffene dagegen wehren können.» Nichts davon finde sich im Paragrafen 18.

«Ich stand total neben mir.»

Eine Sozialhilfebezügerin beschreibt, was sie empfand, als sie von der Observation erfuhr

Das Urteil des EGMR beschäftigt auch den Datenschutzbeauftragten des Kantons, Bruno Baeriswyl: «Aufgrund erster Analysen gehen wir davon aus, dass auch das Zürcher Sozialhilfegesetz einer Anpassung bedarf.» Für Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, ist bereits klar, dass die bestehende Praxis der Sozialämter rechtlich schlecht abgestützt ist. «Wenn wir als Gesellschaft der Meinung sind, man müsse Sozialhilfebezüger überwachen können, dann müssen wir es auch so ins Gesetz schreiben.» Gächter geht davon aus, dass auch das Bundesgericht zu diesem Schluss käme, sollte jemand einen solchen Observationsfall weiterziehen.

Überwachung ist sinnvoll

Dass es grundsätzlich möglich sein soll, mithilfe von Überwachung Missbrauchsfälle aufzudecken, bestreitet indes kaum jemand. Nicht einmal die Sozialhilfebezügerin Meier: «Das kann schon sinnvoll sein, wenn zum Beispiel jemand der Gemeinde einen Hinweis gibt, dass ein Bezüger schwarz arbeitet», sagt sie. «In meinem Fall bestand der Verdacht aber vor allem aus Vermutungen.»

Inzwischen ist Frau Meier aus der fraglichen Wohnung ausgezogen. «Auch um zu untermauern, dass kein Konkubinat besteht.» Ihr Fall wird im Frühling vom Bezirksrat in erster Instanz beurteilt. Sollte sie verlieren, will sie das Urteil mithilfe von Anwalt Heusser voraussichtlich weiterziehen. Heussers Kritik an der bestehenden Observationspraxis geht allerdings weit über Meiers Fall hinaus: «Wenn man alle diese Detektive auf Steuerbetrüger statt auf Sozialhilfebezüger ansetzen würde, flösse ein Vielfaches des heutigen Betrages in die Staatskasse.»

 

Text: Manuel Frick
Bild: jeshots.com creative-commons

Publiziert: 22.02.2017
Medium: Der Landbote