MANUEL FRICK
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Der Pfarrer für die Knastbrüder

Pfarrer Alfredo Díez war 20 Jahre lang in Zürcher Gefängnissen als Seelsorger unterwegs. Nirgends habe er so offene Menschen erlebt wie dort. Manche Insassen erzählten auch mehr, als dem Mann Gottes lieb war.

Schon in seiner Jugend war Alfredo Díez ständig im Gefängnis. Aufgewachsen in Regensdorf, in einem Wohnblock mit Blick auf die Justizvollzugsanstalt Pöschwies, entschied er sich für eine KV-Lehre beim Kanton – wovon er zwei Jahre im Pöschwies im Einsatz war. Lieber als in der Gefängniskanzlei Papierstapel zu wälzen, sprach Díez mit den Insassen.

Gelegenheit dazu bot sich andauernd. Der KV-Lehrling mit Spanisch als Muttersprache wurde oft gerufen, um für lateinamerikanische Häftlinge zu dolmetschen. «Straffällige sind Menschen wie du und ich. Das habe ich bereits als junger Mensch gelernt», sagt der heute 49-jährige Díez. Viele seien Drogenkuriere gewesen, was sie oft aus einer materiellen Not heraus gemacht hätten. «Und ich kann verstehen, dass Menschen in Notsituationen nach jedem Strohhalm greifen.»

Theologie statt Wirtschaft

In seinem Büro im Gebäude der Stadtmission am Neumarkt erzählt Díez, schwarzes Jacket über einem schwarzen Rollkragenpulli, von seinem Werdegang. Wie er nach der KV-Lehre doch nicht wie ursprünglich geplant ein Wirtschaftsstudium begann, sondern sich für Theologie einschrieb. Díez beschritt damit den selben Weg wie sein Vater, der zusammen mit seiner Frau in den 60er-Jahren aus Spanien ausgewandert war und in Winterthur die Iglesia Evangélica Hispana aufgebaut hatte.

«Sie wissen ganz genau, dass alles, was sie einem Therapeuten erzählen, zu ihren Ungunsten verwendet werden kann»

Die Spanisch sprechende Kirchgemeinschaft, Teil der reformierten Landeskirche, hält ihren Gottesdienst gleich über Díez Büro ab. Am selben Ort, an dem bereits der Vater die Predigt gehalten hatte, verkündet nun auch der Sohn jeden Sonntag das Evangelium. Meist vor einer vollen Kirche, die rund hundert Menschen Platz bietet. Und Alfredo Díez kümmert sich nicht nur um die Seelen der Gläubigen, die zu ihm in die Kirche kommen, sondern auch um diejenigen, die im Kanton Zürich hinter Gittern sitzen.

Bevor Díez im letzten Jahr die Leitung der evangelisch-reformierten Gefängnisseelsorge im Kanton Zürich übernahm, war er 20 Jahre lang selber in verschiedenen Anstalten tätig. Die Dienste würden von allen in Anspruch genommen, sagt er. Egal ob katholisch, reformiert, buddhistisch oder muslimisch: Jeder müsse seine Lebensgeschichte verarbeiten; die Trennung von Familie und Freunden mache allen zu schaffen. «Wenn einer nicht über Gott und den Glauben reden will, zwinge ich ihm das nicht auf.»

Manche erzählen zu offen

Alles, was die Insassen dem Pfarrer erzählen, untersteht dem Seelsorge-Geheimnis. Ist jemand im Vollzug, könnte er sich mit seinen Problemen eigentlich auch an einen Sozialarbeiter oder Psychologen wenden. Doch oft vertrauen sich die Häftlinge lieber dem Gefängnisseelsorger an.

«Sie wissen ganz genau, dass alles, was sie einem Therapeuten erzählen, zu ihren Ungunsten verwendet werden kann», sagt Díez. Denn Therapeuten schreiben über ihre Klienten Berichte, wenn es um die Risikoabklärung für einen Hafturlaub oder eine vorzeitige Entlassung geht. Díez sagt, er habe nirgends so offene Menschen erlebt wie im Gefängnis – manchmal schon fast zu offen: «Wenn mir ein Täter bis ins Detail seine Gräueltaten schildert, kann es mir auch zu viel werden.»

«Ein einsamer Job»

Bei der Arbeit als Gefängnisseelsorger drehe sich alles um Nähe und Distanz. Nach einigen Besuchen entwickelt sich eine Beziehung; einige Insassen würden nach Gefallen fragen: Einen Brief herausschmuggeln oder einen Angehörigen kontaktieren – was er aber trotz grosser Empathie nie machen würde.

«Reale Anliegen von Menschen in grosser Not», sagt Diez. Dass man nichts tun und mit niemanden darüber sprechen darf, sei manchmal schwer auszuhalten. «Es ist ein einsamer Job.» Ein Austausch über die Arbeit darf nur zwischen Personen stattfinden, die dem selben Berufsgeheimnis unterstehen. Als Leiter der Gefängnisseelsorge organisiert Díez unter anderem auch Treffen, bei denen solche Probleme besprochen werden.

Díez steht von seinem Stuhl auf. Ein grossgewachsener, kräftiger Mann. Er geht die Treppe hoch und zeigt die Räumlichkeiten der Kirche am Neumarkt. Von aussen wären sie wohl kaum als Gotteshaus erkennbar – wenn da nicht die grossen Fenster wären, die am Rand blau eingefärbt sind. Im Innern fallen das Schlagzeug, die Gitarren und die Mikrofone auf. Díez schnappt sich eine Gitarre und schlägt ein paar Akkorde an. Christlicher Pop. «In der Schweiz assoziiert man diesen Musikstil oft mit Freikirchen und theologischer Enge», sagt Díez.

In Lateinamerika, von wo die Mehrheit seiner Kirchgänger eingewandert ist, laufe diese Musik jedoch auch am Radio und sage nichts über die Frömmigkeit aus. Einige Lateinamerikaner hätten sich gut integriert und sprächen fliessend Deutsch. Viele seien jedoch mitten im Integrationsprozess und bäten ihn um Rat in Behördenangelegenheiten – insbesondere Personen, die sich illegal in der Schweiz aufhalten. Ähnlich wie im Gefängnis vertrauen ihm die Menschen auch hier ihre tiefsten Geheimnisse an. Denn niemand ist so verschwiegen wie der Pfarrer.

 

Text: Manuel Frick
Bild: Marc Dahinden
Publiziert: 03.01.2017
Medium: Der Landbote