MANUEL FRICK
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«Der Islam braucht sicher eine Reform»

Theologin Hamideh Mohagheghi plädiert im Interview für einen offenen und modernen Islam. Sie will an die Zeiten anknüpfen, als in der islamischen Welt frei über Glaubensinhalte diskutiert wurde.

Im Koran findet man viele Verse, die Gewalt rechtfertigen. Zum Beispiel folgende Aussage: «(…) tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf.» Was bedeutet das wenn nicht die Aufforderung zum Krieg gegen Nichtmuslime?

Hamideh Mohagheghi: Solche Stellen muss man immer im historischen Kontext lesen und darf sie nicht als Aufforderung verstehen, die über alle Zeiten gültig ist. Zudem ist schon die Übersetzung des Begriffs Kafir als Heiden oder Ungläubige falsch. Es bedeutet vielmehr Verleugner. Als Theologin muss ich mir überlegen: Von welchen Verleugnern redet der Koran, und gegen wen sollte diese Gewalt angewandt werden?

Und wer ist denn nun mit den Verleugnern gemeint?

Der Vers stammt aus der medinensischen Zeit, also nach der Auswanderung von Mekka nach Medina. Da gab es innerhalb Medinas viele Konflikte, auch aufgrund von Angriffen aus Mekka. Der Vers ist ein Bericht über die damalige Situation, kann aber auch heute noch eine Bedeutung haben. Durch Interpretation kann man die Spannung zwischen Text aus damaliger Zeit und überzeitlicher Boschaft auflösen. Mit anderen Worten: Ich muss den Geist in dieser Erzählung entdecken und darf nicht nur beim äusseren Wortlaut bleiben und daraus Gesetze ableiten, die für alle Zeiten gültig sein sollen.

«Mohammed hat die Offenbarung mündlich vorgetragen und er hat zugelassen, dass man über den Inhalt der göttlichen Botschaft diskutiert.»

Salafisten bestehen aber auf der wörtlichen Auslegung des Korans und würden Ihnen vermutlich vorwerfen, Sie seien vom rechten Pfad abgekommen.

Ja, damit muss ich rechnen, und damit habe ich auch zu tun. Es ist legitim, dass Menschen mit unterschiedlichem Verständnis des Korans miteinander diskutieren. Es kann auch sein, dass jede Richtung für sich ihre Legitimation hat. Aber wenn diese Deutung zu Extremismus führt, der keine andere Meinung neben sich stehen lassen will, dann ist das nach meinem Verständnis nicht mehr der Geist des Islam, sondern die Einengung des Korans für eine tendenziöse Deutung.

Extremisten verweisen oft auf die Zeit, als der Prophet noch lebte. Damals sei die Gesellschaft harmonisch und gerecht gewesen, weil man sich eben am exakten Wortlaut der Offenbarung orientiert habe.

Zu Zeiten des Propheten lag der Koran gar nicht in schriftlicher Form vor. Mohammed hat die Offenbarung mündlich vorgetragen und er hat zugelassen, dass man über den Inhalt der göttlichen Botschaft diskutiert. Auch im Koran selbst steht nirgends: So ist es und so muss es bleiben. Der Appell an die Vernunft zieht sich wie ein roter Faden durch die Offenbarung. Zudem ist es eine falsche Vorstellung, dass diese Zeit so harmonisch war. Extremisten haben idealistische Vorstellungen von einer Gemeinschaft, die es in der Realität auch damals nicht gab.

Ein paar Hundert Jahre nach dem Tod Mohammeds war aber doch die islamische Welt der westlichen überlegen. Man spricht vom goldenen Zeitalter, der Blütezeit des Islam.

Ein goldenes Zeitalter in dem Sinne, dass es keine Konflikte gab, war auch das nicht. Aber goldene Zeiten im Sinne einer grossen geistlichen Freiheit. Die Muslime verstanden damals den Geist des Korans. Sie waren offen gegenüber der Wissenschaft und auch für Diskussionen darüber, was Gott uns eigentlich sagen will. Diese Offenheit wurde später eingeschränkt, teilweise war es sogar verboten, zu philosophieren oder Fragen zu stellen. Die Macht der Gelehrten nahm zu, und sie legten fortan den Inhalt des Glaubens fest.

Wieso konnte sich die Orthodoxie im Islam durchsetzen?

Vielleicht war es für die Menschen einfacher, sich nicht so viele Gedanken zu machen und einfach nur auf die Gelehrten zu hören. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben trauen sich viele Menschen nicht zu.

Wie die meisten Christen bezeichnet auch die grosse Mehrheit der Muslime ihren Glauben als Religion des Friedens. In der Bibel findet man viele Aussagen wie «Liebet eure Feinde», die diese Ansicht stützen. Im Koran überwiegen aber doch die Gewaltstellen.

Es gibt andere Stellen, die sinngemäss lauten: Wenn euch jemand etwas Schlechtes tut, dann antwortet mit etwas Besserem. Dann wird euer Feind zu einem nahestehenden Freund. Die Gewaltstellen überwiegen nicht, sie sind aber im Koran enthalten, genauso wie in der Bibel.

«Viele Moscheevereine haben verstanden, dass man nicht einfach sagen kann, Radikalismus und Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun.»

Im Alten Testament liest man tatsächlich viel von Gewalt. Für Christen ist aber vor allem das Neue Testament massgebend.

Gewaltstellen gibt es auch im Neuen Testament. Wenn Jesus zum Beispiel sagt: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Es ist eine Herausforderung sowohl für Muslime wie auch für Christen, solche Aussagen in den heutigen Kontext zu übersetzen.

Das Christentum hat eine Reformation durchgemacht, sich vom Klerus befreit und zurück auf den Weg der Vernunft finden können. Braucht der Islam ebenfalls eine Reformation?

Ich tue mich schwer mit solchen Vergleichen. Der Begriff Reformation ist christlich belegt. Es war eine Bewegung gegen die Institution Kirche, und Strukturen in dieser Form gibt es im Islam gar nicht. Der Islam braucht sicher eine Reform der Denkweise und Lehre. Wir müssen die Tradition vom Nebeneinander verschiedener Meinungen und Auslegungen wieder entdecken und einen Islam entwickeln, der offen gegenüber neuen Errungenschaften ist. So können wir die Lehre für unsere Zeit fruchtbar machen.

Finden denn in den Moscheen, die Sie kennen, überhaupt keine Auseinandersetzungen um den Glauben statt?

Mittlerweile schon. Viele Moscheevereine haben verstanden, dass man nicht einfach sagen kann, Radikalismus und Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun. Sie müssen sich mit den Problemen auseinandersetzen, wenn sie die eigenen Jugendlichen schützen wollen. Das Bewusstsein wächst und ich hoffe, man findet eigene Wege und Methoden, um an die Jugendlichen ranzukommen.

Einige Jugendliche aus Winterthur sind ins IS-Gebiet gereist oder haben es zumindest versucht. Es wird vermutet, dass die An’Nur-Moschee eine Rolle bei ihrer Radikalisierung gespielt hat. Wie soll man Ihrer Ansicht nach den Moscheeverantwortlichen begegnen?

Wenn wirklich klar ist, dass eine Moschee extreme Gruppierungen unterstützt oder entsprechende Ideologien verbreitet, muss man ihr mit allen Mitteln des Rechtsstaates begegnen. Zuvor sollte man aber das Gespräch suchen und herausfinden, ob das wirklich stimmt. Falls ja, kann man mithilfe von Vermittlung anderer Muslime ein Streitgespräch anfangen und versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Zugleich braucht es Präventivarbeit für Jugendliche, die für solche Ideologien anfällig sind. Eine gute religiöse Bildung würde ihnen das Selbstbewusstsein geben, ihren Glauben selber reflektieren zu können. Dann werden sie auch nicht blind einer Ideologie nachrennen.

Was kann man noch tun, wenn Jugendliche schon einer salafistischen Gruppe angehören?

Man darf nicht von vornherein sagen, alle Salafisten sind schlecht und man darf nicht mit ihnen reden. Wenn jemand für sich selbst sehr traditionell lebt, ist das ja kein Verbrechen. Problematisch wird es dann, wenn man diese Lebensweise allen vorschreiben will. Dann sollte man sie auch direkt fragen: Woran glaubt ihr? Wie lebt ihr? Wieso zieht ihr euch von der Gesellschaft zurück, und was stört euch denn? Die Antworten muss man dann auch ernst nehmen, denn es gibt ja durchaus Dinge, die einen stören können.

Sie sind gläubige Muslima und sprechen offen über die Probleme im Islam. Meist stösst man bei Gläubigen aber auf Zurückhaltung. Liegt das an der Angst vor den wenigen Radikalen?

Ich weiss nicht, ob es das ist oder die Angst, sich nicht richtig artikulieren zu können und falsch verstanden zu werden. Zudem ist die Mentalität in vielen Herkunftsländern der Muslime anders: Dort muss nicht immer alles ausdiskutiert werden. Es gibt aber durchaus die Angst, etwas zu sagen, was als Verrat an den eigenen Religionsgeschwistern verstanden werden könnte. Deshalb denken viele: Lieber sage ich gar nichts, dann bin ich auf der sicheren Seite.

 

ZUR PERSON
Die 62-jährige Hamideh Mohagheghi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften an der Universität Paderborn. Sie stammt aus dem Iran und studierte Rechtswissenschaften, islamische Theologie und Religionswissenschaft. Mohagheghi engagiert sich stark im interreligiösen Dialog und hat vor 20 Jahren ein unabhängiges Netzwerk für muslimische Frauen mitbegründet.

 

Text: Manuel Frick
Bild: (zur Verfügung gestellt von Hamideh Mohagheghi)
Publiziert: 06.03.2017
Medium: Der Landbote