MANUEL FRICK
Gesellschaft Online Reportage

Das Oktoberfest ist keine Todsünde

Entweder man liebt das Oktoberfest, oder man hasst es. Ich bekenne mich zur zweiten Kategorie. Trotzdem habe ich mich am zweitletzten Abend in die Höhle des bayerischen Löwen gewagt und die Gaudi anhand der Todsünden analysiert.

 

Kaum dunkelt es ein, marschieren sie wieder zur Reithalle: Frauen und Männer, in Dirndl und Lederhosn, halb entblösster Busen, nackte Waden. Das Oktoberfest scheint sie anzuziehen wie Mallorca die Deutschen. Aber es sind keine Deutschen, die da kommen, und schon gar keine Bayern. Nein, sie könnten meine Nachbarn sein, heissen vielleicht Herr Hugentobler oder Frau Stierli. Trotzdem sind sie heute Abend flotte Buam und fesche Madln. Sie haben eine fremde Tradition übernommen – zumindest für eine Nacht.

Ich betrete die Reithalle und merke: Die Bayerisierung ist weit vorangeschritten, höchstens 20 Prozent haben sich ohne Verkleidung reingetraut. Wieso huldigt man dem mir fremden Kult? Ich behaupte, die Erwartungen sind klar: Hemmungslos saufen, deftig essen, dazu Schunkelmusik, die für Gemütlichkeit sorgt, und deren Texte dazu auffordern, noch eine Mass zu bestellen. Und als Aphrodisiakum für die Buam gibt’s offenherzig gekleidete Madln. In einem Satz: Es geht um Sünde. Ob das Oktoberfest diese Erwartung erfüllt, kann ich also nur mit katholischen Massstäben messen. Am besten anhand der sieben Todsünden:

1. Superbia – Stolz

Die Wurzel allen Übels. Stolz besteht darin, dass ein Mensch sich selbst als besser definiert, und alle Anderen verachtet, weil sie nicht dazu gehören. Wer am Oktoberfest nicht dazugehört, ist offensichtlich: Mein Hintern steckt nicht in wildledrigen Hosen mit speckigem Sitzbereich, meinen Tabak rauche ich lieber, als ihn mir die Nase hoch zu ziehen, und auf das «zigge-zagge, zigge-zagge» der Band antworte ich nicht mit «hoi, hoi, hoi». Trotz allem trifft mich kein einziger abschätziger Blick.

2. Avaritia – Habsucht

Das übersteigerte Streben nach materiellem Besitz. Ich könnte mich jetzt über die Preise beklagen. Eine Mass kostet 15 Franken — egal ob gutes deutsches Weissbier oder Haldengut —, der Schweinsbratn 22, ein reservierter Platz an einer Festbank ist für 5 Franken zu haben. Dazu gibt’s aber gratis Unterhaltung von einer Band, die laut Beschreibung normalerweise «das Publikum auf Malle» begeistert. Das vorherrschende Motto: Hoch die Krüge. Ein Prosit der Gemütlichkeit. Wem dieser Stil gefällt, wird mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis zufrieden sein.

3. Luxuria – Wollust

Zuerst bin ich enttäuscht. Aber ab zehn Uhr, eine Stunde vor Schluss, wird’s doch noch ein bisschen sündig. So lange hat es gebraucht, bis der Alkohol die Buam und Madln auf den tierischen Aspekt ihrer Existenz reduziert hat, was der Kern der Wollust ist. Jetzt leert Frau Stierli Herrn Hugentobler Bier in den Rachen. Der muss sich dazu bücken, und da sein Po dadurch arg exponiert ist, kriegt er von einem anderen Mann einen Klaps darauf. Das gefällt Herrn Hugentobler gar nicht, weshalb er sich umdreht, und den Angreifer mit einer schwungvollen Rein-Raus-Geste vergrault. Den Moment der Ablenkung nutzt wiederum ein anderer Mann aus und wirft Frau Stierli eine Rose zu.

«Wenn noch einer von der Galerie sein Getränk runterspritzt, hören wir sofort auf.»

Der Kapellmeister

4. Ira – Zorn

Der zornige Mensch glaubt, nur durch Kampf lasse sich Respekt und Anerkennung erarbeiten. In der Reithalle ist davon kaum etwas zu sehen. Wie auch, wenn man dauernd von Securities beobachtet wird, die so viel Barmherzigkeit ausstrahlen, wie damals das Gesicht von Joseph Ratzinger, der als Papst Benedikt XVI. in die Geschichte einging. Man soll hier die Sau rauslassen, aber bitte nur bis zur klar abgesteckten Grenze. Auf den Festbänken tanzen: Ja. Auf die Tische stehen: Nein. Wer es doch tut, kann mit mehreren hundert Franken gebüsst werden. Und der Kapellmeister spielt den Hilfssheriff: «Wenn noch einer von der Galerie sein Getränk runterspritzt, hören wir sofort auf.»

5. Gula – Völlerei

Wer der Völlerei frönt, hat kein Bewusstsein für Grenzen und für das richtige Mass. Bestes Beispiel ist der Bua, den ich mir als «herzigen Besoffenen» gemerkt habe. Herzig, weil er mit alkoholverzerrter Grimasse Madln anmacht, ständig Körbe erhält, das aber friedlich lächelnd hinnimmt und einfach weiterzieht. Dass er aber zehn Minuten vor Schluss nochmals einen Liter Bier bestellt, dürfte tatsächlich als masslos gelten.

Der Kapellmeister animiert die Gäste, auf den Festbänken zu springen.

6. Invidia – Neid

Das Gegenstück des Stolzes. Der neidische Mensch betrachtet alles Eigene als wertlos, und alles, was die anderen haben, als erstrebenswert. Bei manchen dürfte der flotte Bua oder das fesche Madl des oder der Andern Eifersuchtsgefühle wecken. Aber ganz ehrlich, um das zweifelsfrei festzustellen, traue ich mich nicht nahe genug hin. Die Frage «Entschuldigung, hast du gerade die Freundin deines Kollegen begehrt?» würde wohl nicht nur mir gegenüber Ira auslösen.

7. Acedia – Trägheit

Sie beruht auf einem tiefen Desinteresse am Leben auf der Erde. Wer mehrere Liter Bier getrunken hat, ist besonders anfällig. Spätestens am nächsten Morgen, wenn das Madl sich zurückverwandelt in Frau Stierli und der Bua in Herrn Hugentobler, wird sich die Trägheit in Form eines Katers anschleichen.

Auch mein Fazit ist ernüchternd: Wollust, Völlerei und Trägheit — nur drei von sieben Sünden wurden zweifelsfrei begangen. Ausserdem, so steht es im Katechismus der katholischen Kirche, gilt etwas nur als Todsünde, wenn Gottes Gesetze absichtlich und bewusst übertreten wurden. Und wo so viel Alkohol in so kurzer Zeit fliesst, bleibt das Bewusstsein meist auf der Strecke.

 

Text und Video: Manuel Frick
Bild: Pixabay creative-commons
Publiziert: 06.11.2017
Medium: Der Landbote